„Die Lieb' ist eine Zauberin.”

Novellette von R. v. Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 19.08.1906


„ — — — und so gingen sie einer glücklichen Zukunft Hand in Hand getrost entgegen.” — „Ende!” —

Fanny klappte das Buch zu: „Aus ist der Roman!”

„Schade! Ich hätte gar zu gern gewußt, wie es ihnen weiter gehen wird.”

Zwei junge Mädchen waren es, die diese Worte wechselten; die eine eine schlanke Goldblondine, die andere, etwas kleinere mit lockigem, braunem Haar und großen Rehaugen. Fanny lehnte in einem Schaukelstuhl, Käthchen lag auf einem Diwan, von dessen blauem Samt ihre in weißen Tüll gehüllte Gestalt sich anmutig abhob. Durch die halbgeöffnete Balkontür drang hin und wieder das Geräusch der Großstadt, vermischt mit dem Tirilieren des Kanarienvogels, der sich der warmen Sommerluft erfreute.

„Mir ist immer ganz traurig zu Mut, wenn ein Roman zu Ende ist,” sagte Fanny. „Ich habe dieselbe Empfindung, als ob ich von lieben Bekannten Anschied nehmen müßte, und noch tagelang klingt es nach. Ist Dir auch so?”

„Ein bißchen, aber nicht sehr, Fanny. Mich bewegt bei allen Erzählungen und auch bei dieser, die wir soeben beendet haben, ein anderer Gedanke. Ich finde, es ist immer so unnatürlich geschildert, wie die Leute sich verlieben. Vor allem frappiert es mich, daß die Heldin immer ganz genau weiß: „Den liebe ich!” Ich glaube, ich würde es nicht wissen. Und wenn ich mich verloben müßte, hätte ich eine gräßliche Angst, ob es auch der Richtige ist.”

„Aber so weit sind wir noch lange nicht. Vorläufig werden wir beide noch manchen deutschen oder französischen Roman gemeinsam schmökern, vorläufig werden wir noch einen Winter zusammen tanzen, denn wir sind erst achtzehn! Und vor allem werden wir uns diesen Sommer im Bade nach Kräften amüsieren. Ich hoffe, daß Du mir täglich schreiben wirst!”

„Selbstverständlich; ich habe schon einen großen Karton Velinpapier zurechtgelegt. Und Ansichtspostkarten, die gelten nicht. Man kriegt da so wenig 'rauf, und eigentlich ist es nur Faulheit. Dafür bring' ich Dir aber Photographien mit.”

„Adieu, süße Katze, und viel Amüsement!”

„Dir auch und auf Wiedersehen in sechs Wochen!”

Fanny setzte den modernen flachen Veilchenhut auf und ging. Käthchen wehte ihr vom Balkon aus so lange mit einem Tüchlein nach, bis die Gestalt der Freundin verschwunden war. —

*           *           *

„Hammerhuus auf Bornholm.

Liebe Fanny!   Hier erhältst Du den ersten Brief von mir, den ich Dir in einer alten Burgruine auf einem Hügel, hoch über der See schreibe. Um mir Schilderungen zu ersparen, reiße ich die Seiten aus dem kleinen Reiseführer und lege sie Dir bei; aber das will ich doch sagen: es ist riesig romantisch hier! See und Berg und Fels und abends Leuchtturm bei Wogenrauschen. Man denkt immer, irgendwo wird ein verzauberter Ritter auftauchen und fragen:

„Prinzessin, liebst Du mich?”
      „Ja, mein Prinz, ich liebe Dich!” —

Aber davon ist nichts zu merken. Die „Männlichkeit” besteht hier zumeist aus Professoren, Räten und Kaufleuten, die sehr prosaisch ihren Urlaub hinbringen. Auch ein paar Maler sind hier, die mit ihren Paletten umherklettern. Papa und Mama haben mehrere Bekanntschaften gemacht und sitzen meistens mit diesen Herrschaften zusammen, indes ich über Feld und Stein streife.

Mit vielen Grüßen

Käthe.”

*           *           *

„Liebe Fanny!   Gestern hab' ich eine Art von Abenteuer erlebt. Ich war in eine der pittoresken Uferschluchten hinuntergeklettert und hatte unten, auf einem Feldblock, ein wenig in dem mitgenommenen Gedichtbande geblättert, als das Pfeifen und Läuten im Steinbruch (aus dem viele unserer Berliner Pflastersteine herstammen) mich an die Mittagsstunde mahnte. Ich wollte hinaufklimmen, bemerkte aber mit Schrecken, daß es erheblich schwerer, wenn nicht unmöglich war, den Pfad zurückzugehen, den ich gekomen war. Während ich noch zögernd dastand, nahte die Hilfe in Gestalt eines der hier pinselnden Maler. Ein älterer Herr reichte mir von oben her seinen Stab und ich kam endlich wieder an die Oberfläche. Wäre er nicht dagewesen, hätte ich geraume Zeit hier schmachten können, bis es einem Passanten gefiel, mich zu erlösen. Ich habe den Eltern natürlich nichts davon erzählt, denn sonst verbieten sie mir das herrliche, freie Umherstreifen in dieser wilden Fels- und See-Natur. Und die Sache hatte doch gar nichts auf sich. — Heute gibt es im Hotel zu Tisch: Krebssuppe, Kalbsrücken, Himbeer-Eis. Bei dem letzteren denke ich an Dich, denn es ist ja Deine Lieblingsspeise. —

K.”

*           *           *

„Liebe F.!   Das Abenteuer mit der Schlucht war doch nicht so ganz ohne. An derselben Stelle, wo ich neulich saß, ist vor ein paar Jahren ein Knabe, der auch hinuntergeklettert war und nicht hinaufkonnte, ertrunken. Die See war infolge Sturmes gestiegen und hatte den Armen herabgespült. Ich fühle mich somit meinem Retter verbunden und werde ihm gelegentlich einen Blumenstrauß dedizieren. Er sitzt bald hier bald da und malt nach der Natur. — Der schottische Plaid, Dein reizendes Geschenk zu meinem letzten Geburtstag, bewährt sich sehr; er ist allerliebst und praktisch. —

K.”

*           *           *

„Liebe Maus!   Heute hab' ich den Alten aufgesucht, als er oben in der Schloßruine saß und malte. Ich hatte mir einen schönen Blumenstrauß besorgt und überreichte ihn mit einigen scherzenden Worten. Er erkannte mich natürlich sofort wieder und war sehr nett. Wir haben einige Minuten miteinander geplaudert. Du fragst in Deinem Brief, wie er aussieht? Also anderthalb Köpfe größer als ich, breitschultrig, große blaue Augen, feuerrot verbrannte Nase, dunkelbraune Locken, von denen aber nicht viel zu sehen ist. Denn er hat einen riesigen Vollbart, der ihm bis auf die Brust hängt. Er trägt einen großen Strohhut von vorsündflutlicher Form und ganz alte geflickte Sachen, die Beinkleider in Schaftstiefel gesteckt. Er ist sicherlich so ein armer, alter Hungerleider, der wenig verdient und nur mit Mühe an den Mann bringt, was er hier im Sommer zusammenklext. Er tut mir leid. Vielleicht kann ihm Papa etwas abkaufen; man braucht es ja nicht in den Salon zu hängen. — Lasse bald von Dir hören!

Mit tausend Grüßen! —

Käthe.”

*           *           *

„Liebe Fanny!   Eine Insel ist ja sehr hübsch und eigenartig, aber in mancher Hinsicht auch langweilig, zumal wenn nur wenig oder gar kein junges Volk zur Gesellschaft da ist. Ich würde mich schrecklich ennuyieren, hätte ich nicht meinen alten Freund, den Maler. Wir sind jeden Vormittag zusammen, natürlich ist es nur Zufall, aber bisher haben wir uns immer getroffen. Wir plaudern, und er malt fleißig dabei. Und willst Du glauben, dieser Vorsündflutler hat wunderbar feine, zarte, schlanke Hände. Es ist ein wahrer Genuß zu sehen, wie diese ebenmäßigen Finger den Pinsel fassen und feine, zarte Lichter auf die Landschaft setzen. Er hat übrigens keinen Ring an den Händen, ist also wohl unverheiratet. Er hat mir erzählt, daß er im Winter auch in Berlin — in einem Vorort glaube ich — wohnt, aber schon seit Mai hier in Bornholm ist. Ich habe ihn ausgeforscht, in welchen Kreisen Berlins er verkehrt. Aber er hat für alles nur ein gutmütiges Lachen und es ist wohl Verlegenheit, weil er so wenig herumkommt und nur ein kleines Licht ist. Er malt immer nur Wasser und Himmel, Menschen wird er wohl gar nicht zeichnen können. Denn Köpfe sind schwer. Weißt Du noch, wie wir bei Fräulein Roussilon in die Malstunde gingen? —

Deine Käthe.”

*           *           *

„L. F.   Wie alt mein Malermeister ist? Schwer zu beantworten. Der große Pilz von Hut, der Riesenbart entstellen sehr. Manchmal denke ich, er könnte wohl schon vierzig sein, dann aber sieht er auch wieder jünger aus, so fünf-, sechsunddreißig. Also immer noch einmal so alt, wie ich bin. Jedenfalls ist er zu alt, um noch einen anderen Beruf anzufangen, der ihn besser ernährte. Ich habe darauf hin einmal angeklopft. und er hat es auch zugegeben, indem er sagte: „Was Hänschen nicht lernte, lernt Hans nimmermehr.” Und dabei sah er halb kustig, halb traurig aus seinen Augen, die die Güte selber sind. Ich glaube, er ist ein braver Charakter, ein guter, edel beanlagter Mensch. — Mit Gruß! Käthe.”

*           *           *

„Liebste F.!   Wir waren vorgestern nach der Oesterlars-Kirche, einer hiesigen Sehenswürdigkeit gefahren, so daß ich mein Stelldichein am Vormittag versäumen mußte. Als ich nun gestern mit ihm wieder zusammentraf, fragte er sogleich: „Sie haben mich gestern im Stich gelassen! Wo waren Sie denn?” — Und dabei hatte seine Stimme einen Klang, der mir ins Herz schnitt. Ich wollte zuerst scherzhaft erwidern, brachte es dann aber nicht über mich. — Und weißt Du, Fanny, was das Merkwürdigste ist? — Ich habe von dem Ausflug auch nichts gehabt, sondern immerzu an ihn gedacht. Welch' Gewohnheitstier ist doch der Mensch! — Ob ich wohl eine Bekanntschaft mit den Eltern vermitteln soll? Er könnte ja bei uns in Berlin verkehren. Fast fürchte ich aber, er wird im Salon keine gute Rolle spielen, mit dem Bart, Strohhut und Schmierstiefeln.

K.”

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„Liebe F.!   Mama langweilt sich hier, was mir unbegreiflich ist! — Sie will fort! Ich tue mein Möglichstes, um diesen Plan zu hintertreiben. Bornholm ist himmlisch. Ich möchte noch zehn Jahre hier bleiben! Was soll ich wohl in dem faden Saßnitz oder Misdroy? Ich will nicht fort, ich sträube mich mit Händen und Füßen! — Denke Dir, gestern hat er mich mit einem herrlichen Geschenk überrascht. Ein herrliches Porträt von mir, wie ich unten an der See sitze! Der gute, liebe Mensch. Und als ich ihm die Hand gab, da küßte er sie, und mir wurde so seltsam! Oh! Ich werde ihn sehr, sehr vermissen!

Deine Käthe.”

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„Ach, Fanny!   Wie sehr hat sich Deine Käthe blamiert! Ich könnte mich zu Tode schämen. Weißt Du, wer mein alter Maler ist? Der berühmte Schubert, der erste Porträtist von Berlin! Und wie hiesige Badegäste zu berichten wissen, umschwärmt von der Berliner Damenwelt! Dabei steinreich und erst Anfang Dreißiger! Er soll mit einer Komtesse verlobt sein! — Beweine Deine arme

Käthe.”

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„L. F.!   Nein, beweine sie nicht! Beglückwünsche sie; denn sie ist die seligste Braut in ganz Deutschland. Lieber Gott, wie dumm war ich doch, — weißt Du noch, damals, als wir kurz vor der Reise vom „Anhalten” und „Verloben” sprachen! — Es kam ganz von selbst, ohne alle Zeremonien und Einleitungen. Er fragte gar nicht viel, sondern zog mich an seine breite Brust. Und mir wurde plötzlich so sanft, so ruhig, so liebend zu Mut, daß ich gar nichts sagen konnte, sondern weinen mußte, vor Glück und Seligkeit!

Deine glücklichste Käthe.”

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„L. F.!   Hier noch zum Schluß der diesjährigen Sommerkorrespondenz die offiziöse Mitteilung!

Professor Ernst Schubert — Katharina v. Fassendorf
Verlobte.”

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